Wahlrecht

Das demokratische Prinzip der Volkssouveränität verdichtet sich in den Wahlen. Mit ihnen bestellen die zur Wahl berechtigten Personen die Organe, die die Staatsgewalt nach ihrem Willen ausüben (Repräsentation). Anders als Volksabstimmungen sind Wahlen in der Demokratie obligatorisch. Sie unterwerfen die Regierenden der Kontrolle der Regierten und sichern durch ihre Periodizität die für einen demokratischen Verfassungsstaat ebenfalls konstitutive Zeitbegrenzung politischer Herrschaft (Gewaltenteilung).

Auch nichtdemokratische Systeme verzichten aus Legitimationsgründen auf Wahlen nur ungern. Sie wollen damit zumindest den Anschein erwecken, die Verhältnisse seien demokratisch. Demokratische Wahlen setzen voraus, dass sich Präferenzen innerhalb der Gesellschaft frei entfalten können, dass Parteien sie zu unterschiedlichen programmatischen und personellen Angeboten bündeln und dass diese Angebote in der Wahlauseinandersetzung fair miteinander konkurrieren.

In der NS-Zeit und in der DDR war dies nicht gegeben. Die Bürger konnten hier nur eine Partei beziehungsweise Einheitsliste „wählen“. In der DDR waren verschiedene Parteien und Organisationen in der von der SED angeführten „Nationalen Front“ zusammengefasst. Absurd hohe Zustimmungsraten von über 99 Prozent legten dabei den Verdacht der Wahlfälschung nahe. Bei den im Wendejahr 1989 stattfindenden Kommunalwahlen war dies so evident, dass sich dagegen offener Widerspruch regte. Dies leitete den Zusammenbruch der SED-Herrschaft ein (Friedliche Revolution).

In der Bundesrepublik finden sich die rechtlichen Grundlagen der Wahlen im Grundgesetz, im Parteiengesetz und in den Wahlgesetzen beziehungsweise -ordnungen des Bundes und der Länder, wobei letztere auch die Wahlen auf kommunaler Ebene regeln. Auch bestimmte Aspekte der Regierungsform wie die Dauer der Legislaturperiode werden vom Wahlrecht umfasst. Der Begriff wird im allgemeinen Sprachgebrauch häufig mit dem „Wahlsystem“ gleichgesetzt, das aber nur einen Teilaspekt des Wahlrechts umschreibt.

Das Grundgesetz begnügt sich mit der Festlegung von allgemeinen „Wahlrechtsgrundsätzen“, die den demokratischen Charakter der Wahl gewährleisten sollen. Gemäß Artikel 38 Absatz 1 sind dies die Allgemeinheit, Unmittelbarkeit, Freiheit, Gleichheit und Geheimheit der Wahl, zu denen sich als weiterer, vom Bundesverfassungsgericht abgeleiteter Grundsatz die Öffentlichkeit der Wahl gesellt. Zu unterscheiden ist zwischen dem Recht, an der Wahl teilzunehmen (aktives Wahlrecht) und dem Recht, sich selbst aufstellen und wählen zu lassen (passives Wahlrecht).

Die Allgemeinheitder Wahl verlangt, dass das Wahlrecht allen Staatsbürgern offensteht (Staatsangehörigkeit). Ausnahmen sind nur mit Blick auf Alter, Sesshaftigkeit, Mündigkeit und schwere Straftaten zulässig. Das Wahlalter liegt seit 1970 bei 18 Jahren. Einige Bundesländer haben das aktive Wahlalter bei Kommunal- und/oder Landtagswahlen inzwischen auf 16 abgesenkt. Der Grundsatz verpflichtet den Gesetzgeber ferner, für eine möglichst hohe faktische Wahlbeteiligung zu sorgen. Dies wird durch ein dichtes Netz von Wahllokalen sowie die Möglichkeit der Briefwahl verbürgt, von der bei der Bundestagswahl 2021 fast die Hälfte der Wähler Gebrauch gemacht haben.

Unmittelbarkeit besagt, dass die Abgeordneten direkt gewählt werden, es also kein zwischengeschaltetes Wahlgremium gibt wie etwa bei der Präsidentenwahl in den USA. Die Freiheit der Wahl soll gewährleisten, dass die Wähler ihre Stimme ohne Pressionen von staatlicher wie nichtstaatlicher Seite abgeben können. Sie setzt zugleich ein konkurrierendes Wahlangebot durch unterschiedliche Parteien voraus. Die Geheimheit will davor schützen, dass die Behörden oder andere Bürger von der Stimmabgabe Kenntnis erlangen, die Öffentlichkeit sicherstellen, dass die Wahl ordnungsgemäß und nachvollziehbar verläuft.

Aus rechtlicher Sicht am kniffligsten ist die Gleichheit der Wahl. Sie bezieht sich zum einen auf die Chancengleichheit der Wettbewerber, die bei den Wahlrechtsregelungen, der Parteienfinanzierung oder dem Zugang zu den Medien nicht einseitig bevorzugt oder benachteiligt werden dürfen. Für die Regierung gilt ein Neutralitätsgebot, was in einer parlamentarischen Parteiendemokratie schwer umsetzbar ist. Zum anderen verlangt der Grundsatz, dass jede Stimme gleich viel wiegt (one man, one vote). Wie das realisiert wird, hängt vom Wahlsystem ab. In Mehrheitswahlsystemen erstreckt sich die Forderung nur auf den Zählwert der Stimmen, in Verhältniswahlsystemen auch auf den Erfolgswert.

Das Wahlsystem regelt, wie die Wähler ihre Kandidaten- und Parteienpräferenzen in Stimmen ausdrücken und wie diese Stimmen anschließend in Mandate, das heißt Parlamentssitze übertragen werden. Dies geschieht durch Festlegung der Wahlkreiseinteilung, Wahlbewerbung, Stimmgebung und Stimmenverrechnung. Der Gesetzgeber muss sich zwischen den Grundtypen der Mehrheits- und Verhältniswahl entscheiden. Bei der Mehrheitswahl erhält das Mandat, wer im Wahlkreis die absolute oder relative Mehrheit erzielt. Der Sitzanteil der siegreichen Partei wird in diesem System künstlich erhöht, da die unterlegenen Stimmen bei der Mandatsvergabe unberücksichtigt bleiben. Dies fördert die Bildung klarer Mehrheiten. Die Verhältniswahl strebt demgegenüber eine getreue (proportionale) Abbildung der Kräfteverhältnisse an. Stimmen- und Mandatsanteile der Parteien sollen sich weit möglichst entsprechen. Hier steht das Gerechtigkeitsziel im Vordergrund.

Wie die Geschichte der Demokratie insgesamt, ist die Geschichte des Wahlrechts in Deutschland eine wechselhafte. So galt zum Beispiel auf der Reichsebene seit 1871 ein allgemeines und gleiches Männerwahlrecht, mit dem das Kaiserreich sogar den USA oder Großbritannien voraus war. Auf der anderen Seite blieb in Preußen das ungleiche Dreiklassenwahlrecht bis 1918 erhalten. Gleichzeitig bestand ein Wahlsystem, das durch die Kombination von absoluter Mehrheitswahl mit einer die ländlichen Gebiete begünstigenden Wahlkreiseinteilung gerade die aufstrebenden Sozialdemokraten benachteiligte. Die Einführung der Verhältniswahl war ihnen deshalb ein wichtiges Anliegen. Anders als später im Grundgesetz wurde sie in der Weimarer Republik 1919 sogar in die Verfassung hineingeschrieben. Auch die Frauen durften seit dieser Zeit wählen.

Am Weimarer Wahlsystem wurde rückblickend kritisiert, dass es durch das Fehlen einer Sperrklausel zur übermäßigen Parteienzersplitterung beigetragen habe. Mit der Einführung der Fünfprozenthürde hat man diesen Fehler in der Bundesrepublik korrigiert. Geändert wurde auch die Wahlkreiseinteilung. Anstelle der Mehrpersonen- traten jetzt Einpersonenwahlkreise, in denen die Hälfte der Abgeordneten mit relativer Mehrheit direkt gewählt wird. Die andere Hälfte zieht über Parteilisten ein. Seit Inkrafttreten des Wahlgesetzes 1953 hat der Wähler zwei Stimmen. Die auf dem Wahlzettel links angeordnete Erststimme gilt dem Wahlkreiskandidaten, die rechts angeordnete Zweitstimme der Partei. Der Mandatsanteil der Parteien richtet sich ausschließlich nach dem Ergebnis der Zweitstimmen. Steht fest, wie viele Sitze jede Partei insgesamt erhält, werden die direkt gewählten Abgeordneten auf diesen Anteil angerechnet. Das Wahlgesetz spricht daher zu Recht von einer „mit einer Personenwahl verbundenen Verhältniswahl“.

Dass ein erheblicher Teil der Wähler um die ausschlaggebende Bedeutung der Zweitstimme nicht weiß, ist misslich, erregt aber in der öffentlichen Debatte kaum Anstoß. Ein anderes Problem, das sich aus der Verbindung von Wahlkreis- und Listenmandaten ergibt, wurde dagegen zu einem Dauerstreitthema und hat das Bundesverfassungsgericht wiederholt beschäftigt: die mögliche Entstehung von Überhangmandaten. Gewinnt eine Partei mehr Direktmandate, als ihr nach dem Anteil der Zweitstimmen zustehen, darf sie diese behalten. Die daraus resultierende Verzerrung des Zweitstimmen-Proporzes wird als Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz kritisiert. Weil nur die großen und hier vor allem die jeweils stärkere Partei von den Überhängen profitieren, wollten sie auf den Vorteil lange Zeit nicht verzichten. Erst 2013 verständigte man sich auf die Einführung von Ausgleichsmandaten. Dies führte dazu, dass der Bundestag über eine seine reguläre Sollgröße von 598  auf zuletzt 736 Abgeordnete stark anwuchs.

Die Beseitigung dieses als unhaltbar betrachteten Zustands fiel den Parteien schwer. 2023 setzte die Ampelkoalition eine Reform durch, die jedoch auf vehementen Widerstand der Opposition traf, vor allem der CSU und der Partei Die Linke. Diese stoßen sich besonders an der Abschaffung der sogenannten Grundmandatsklausel, die es den kleineren Parteien bisher ermöglicht hat, bei einem Gewinn von drei Direktmandaten die Fünfprozenthürde zu umgehen. Die Union beklagt zudem, dass die Verrechnung der Überhänge künftig über die Wahlkreiskandidaten erfolgen soll – auch wer den Wahlkreis gewinnt, erhält dann nicht mehr automatisch ein Mandat.

Dass darüber jetzt erneut das Bundesverfassungsgericht entscheiden muss, verweist auf ein grundsätzliches Problem. Das Wahlsystem ist nur einfachgesetzlich geregelt, kann von der regierenden Mehrheit also jederzeit nach ihren eigenen Vorstellungen geändert werden. Dabei wäre ein parteiübergreifender Konsens gerade hier, wo es um die Grundlagen der politischen Machtverteilung geht, sinnvoll. Deshalb erhebt sich die Frage, ob man nicht zumindest die Grundzüge des Wahlsystems in der Verfassung selbst verankern sollte, so wie es in Weimar der Fall war und wie es auch die meisten anderen Demokratien halten.            

© Prof. Dr. Frank Decker (Universität Bonn)

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