Reichstagsgebäude
Das Reichstagsgebäude symbolisiert wie kein anderes Bauwerk oder Denkmal die Kontinuitäten und Brüche der deutschen Demokratie. Nach der 1991 getroffenen Entscheidung, Parlament und Regierung wieder in die alte Hauptstadt Berlin zu verlegen, beweifelte niemand, dass der Deutsche Bundestag dort seinen Sitz nehmen würde. 1884 war das Gebäude vom Frankfurter Architekten Paul Wallot im Stil der Neorenaissance errichtet worden. Der selbstbewusst auftrumpfende, mit einer imposanten Glas- und Stahlkuppel versehene Bau erregte das Missfallen Kaiser Wilhelms II., der sich zugleich gegen die Anbringung des Schriftzugs „Dem deutschen Volke“ am Hauptportal verwahrte. Diese erfolgte erst 1916, als die Parlamentarisierung der Verfassung kurz bevorstand.
In der Weimarer Republik bereitete der Reichstag den Nationalsozialisten die Bühne ihres Aufstiegs. Dies mag erklären, warum Hitler das Gebäude nach seiner Zerstörung durch den Brand am 27. Februar 1933 nicht abreißen ließ, obwohl es danach funktionslos wurde. Das Bild des in Flammen stehenden Reichstags grub sich als Symbol für die Zerstörung der Demokratie tief ins Gedächtnis ein. Auch für die sowjetischen Soldaten war es das deutsche Gebäude mit dem höchsten Wiedererkennungswert, weshalb sie ihre siegreiche Flagge nach der Eroberung Berlins hier aufzogen und nicht auf der Reichskanzlei oder dem Brandenburger Tor. Das am 2. Mai 1945 von der nachträglich gestellten Szene geschossene Foto gehört zu den Ikonen des 20. Jahrhunderts.
In der Nachkriegszeit wurde das Reichstagsgebäude auf West-Berliner Gebiet direkt an der Grenze zu einem Symbol der deutschen Teilung. Ohne die Kuppel in einer ambitionslosen Architektur wiederaufgebaut, geriet es nach dem Mauerbau zunehmend in Vergessenheit und wurde vom Bundestag nur noch selten für Sitzungen genutzt. Fasziniert vom Reichstag und seiner wechselvollen Geschichte war der bulgarische Aktionskünstler Christo. Er hatte schon seit 1971 den Plan verfolgt, das Gebäude zu verhüllen, war damit aber bei den Bundestagspräsidenten immer wieder abgeblitzt. Erst der Hauptstadtbeschluss machte den Weg für das spektakuläre Projekt frei. Es rückte den Reichstag im Sommer 1995 für zwei Wochen in den Blickpunkt der Weltöffentlichkeit. Als das Gebäude wieder enthüllt wurde, begannen die Umbauarbeiten, mit denen man den britischen Stararchitekten Norman Foster beauftragt hatte.
Das Ergebnis gilt nach fast einhelliger Meinung als geglückt. Foster gelang es, die freigelegten alten Teile des Wallot-Baus mit einer modernen Architektur zu verbinden. Gelobt wurde auch, dass der Architekt die nach der Entkernung sichtbar gewordenen Graffiti russischer Soldaten konservieren ließ. Als Geniestreich erwies sich die von ihm ursprünglich gar nicht geplante begehbare Kuppel, die einem Wunsch des Bundestages entsprang. In zeitgemäßer Formensprache umgesetzt, erhebt sie sich direkt über dem Plenarsaal, um von außen einen Einblick in die Arbeit des Parlaments zu ermöglichen – passender lässt sich das demokratische Prinzip der Transparenz und Kontrolle nicht ausdrücken. Berlin erhielt dadurch einen neuen Tourismusmagneten.
Auch wenn der von Foster entworfene Plenarsaal an die Leichtigkeit des von Günter Behnisch errichteten Neubaus in Bonn nicht heranreicht, strahlt das Gebäude mit seiner Helligkeit und den im Innenbereich installierten zeitgenössischen Kunstwerken Zukunftsoffenheit aus. Der im Lichthof auf einem Pflanzenbeet platzierte, von der Besucherebene aus einsehbare Schriftzug „Der Bevölkerung“, in denselben Lettern ausgeführt wie die alte Portalinschrift, ist nur ein Beispiel für seine mannigfache, aber auch streitbare Symbolik. Mit ihr wollte der Künstler Hans Haacke deutlich machen, dass das Parlament in einer Einwanderungsgesellschaft alle im Land lebenden Menschen repräsentiert, nicht nur die Deutschen.
© Prof. Dr. Frank Decker (Universität Bonn)