Berliner Republik

Der überwiegend feuilletonistisch, aber auch in der Wissenschaft verwendete Begriff Berliner Republik bezieht sich im weiteren Sinne auf das seit dem 3. Oktober 1990 wiedervereinigte Deutschland. Im engeren Sinne steht er für die 1991 beschlossene und 1999 vollzogene Verlegung des Parlaments- und Regierungssitzes von Bonn nach Berlin, dessen Ostteil bereits der DDR als Hauptstadt gedient hatte. Nachdem der Begriff in den 1990er- und 2000er-Jahren häufig auftauchte, ist er inzwischen verblasst. Das liegt zum einen daran, dass er im Gegensatz zur Weimarer oder zur Bonner Republik keine abgeschlossene Epoche markiert. Zum anderen wird es inzwischen als Normalität, wenn nicht gar Selbstverständlichkeit empfunden, dass Berlin Deutschlands Hauptstadt ist.

In den 1990er- und 2000er-Jahren sollten mit dem Verweis auf die Berliner Republik vor allem Wandlungstendenzen im Vergleich zur „alten“ Bundesrepublik aufgespürt werden. Anders als bei der Gründung der Bonner Republik, die als zweite deutsche Demokratie und Gegenentwurf zur gescheiterten Weimarer Republik einen politischen Neuanfang darstellte, bewegten sich diese Tendenzen nach 1990 beziehungsweise 1999 im Rahmen einer grundsätzlichen Kontinuität. Durch die Überwindung der Teilung wurden weder die Verfassungsordnung und das Wirtschafts- und Sozialsystem des Landes in Frage gestellt noch seine außenpolitischen Grundkoordinaten verschoben. Selbst in der Hauptstadtfrage gab es keinen kompletten Neubeginn, nachdem ein Teil der Bundesministerien in Bonn verblieb.

Die Veränderungen lassen sich vordergründig daran ablesen, dass die Bundesrepublik mit der deutschen Einheit größer, östlicher und protestantischer beziehungsweise konfessionsloser wurde. Auch nach über 30 Jahren Abstand zeigen sich in der politischen Kultur markante Differenzen zwischen Ost und West. Die größere Demokratieskepsis der Ostdeutschen spiegelt sich im Parteiensystem. Der Zuspruch zu den systemkritischen Randparteien ist in der früheren DDR höher. Dort konnte sich mit der Partei des Demokratischen Sozialismus (Die Linke) ein Überbleibsel der kommunistischen Zeit auch gegen die Konkurrenz der von Westdeutschland importierten Parteien behaupten. In der Nachwendezeit führte der Transformationsprozess im Osten zu bis heute nachwirkenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verwerfungen. Obwohl die Bundesrepublik gewaltige Summen in den Aufbau der neuen Länder investierte, besteht zwischen beiden Landesteilen eine kaum aufholbare wirtschaftliche Lücke.

Außenpolitisch wurden die Veränderungen in der Berliner Republik am selbstbewussteren Auftreten Deutschlands in der Europäischen Union und im westlichen Bündnis festgemacht. Exemplarisch dafür steht Gerhard Schröders Nein zu einer deutschen Beteiligung am Irakkrieg, das 2002 mitentscheidend für den Sieg von SPD und Bündnis 90 /Die Grünen bei der Bundestagswahl war. Die Normalisierung des Nationalbewusstseins rührte auch daher, dass mit Schröder eine neue Politikergeneration in die Machtpositionen einrückte, die Nationalsozialismus und Weltkrieg nicht mehr aus eigener Erfahrung kannte. Während Helmut Kohl sich bei der Unterstützung der USA im ersten Golfkrieg 1990 auf finanzielle Zusagen beschränkte, war die rot-grüne Regierung 1999 erstmals bereit, deutsche Soldaten in einen Kriegseinsatz zu schicken – noch dazu gegen das im Zweiten Weltkrieg von der Wehrmacht überfallene Serbien. Und nach den Terroranschlägen des 11. September 2001 beteiligte sich die Bundeswehr mehr als 20 Jahre lang an der Seite der USA am Krieg in Afghanistan.

Schwer zu ermessen sind die Folgen, die die Verlegung von Parlament und Regierung nach Berlin für das politische Geschäft und gesellschaftliche Klima des Landes hatten. Die Hoffnung, die Metropole würde die Politiker näher an der Lebenswirklichkeit der Menschen rücken, bewahrheitete sich nicht. Umgekehrt wären die mit der Berliner Republik assoziierten gesellschaftlichen und politischen Veränderungen – unabhängig von der Hauptstadtfunktion – auch in Bonn eingetreten. Das gilt nicht zuletzt für die seit dem Hinzutreten des Internets fundamental gewandelten Bedingungen der Medienkommunikation (→ Öffentlichkeit und Medien). Ob die Beschaulichkeit der kleinen Stadt am Rhein der Abgehobenheit eines aus Lobbyisten, Beratern und Journalisten bestehenden, weitgehend um sich selbst kreisenden Betriebs entgegenwirkt hätte, die man heute am „politischen Berlin“ beklagt, bleibt eine müßige Spekulation.

© Prof. Dr. Frank Decker (Universität Bonn)

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