Bonner Republik
Der Begriff der Bonner Republik steht für die von der Staatsgründung 1949 bis zur Wiedervereinigung 1990 reichende Epoche der „alten“ Bundesrepublik. In einem weiter gefassten Sinne reicht sie bis zum Jahre 1999, als der 1991 vom Bundestag getroffene Beschluss umgesetzt wurde, Parlaments- und Regierungssitz nach Berlin zu verlegen. 1999 bezog der Bundestag im umgebauten Reichstagsgebäude Quartier, 2001 der Bundeskanzler im neu errichteten Kanzleramt. Die 1990er-Jahre bilden aus dieser Sicht eine Parallel- beziehungsweise Übergangsphase, in der die auslaufende Bonner und aufziehende Berliner Republik miteinander verschmelzen.
Der Begriff der Bonner Republik ist aber nicht erst in den 1990er-Jahren als Entgegensetzung zur Berliner Republik des vereinten Deutschlands geprägt worden. Er lässt sich bis in die Frühgeschichte der alten Bundesrepublik zurückverfolgen, wo er vor allem den Unterschied zur Weimarer Republik markieren sollte – der gescheiterten ersten deutschen Demokratie. Als sich der Erfolg des demokratischen Neuanfangs in Westdeutschland in den 1950er-Jahren abzuzeichnen begann, trat dieser Unterschied immer mehr ins Bewusstsein. Der Titel eines 1956 erschienenen Buches des Schweizer Journalisten Fritz René Allemann wurde seither zu einem geflügelten Wort: „Bonn ist nicht Weimar“.
Im Vergleich zu Weimar sind insbesondere drei Faktoren hervorzuheben, die die Stabilität der westdeutschen Demokratie begründeten. Erstens zogen die Verfassungsväter und -mütter die richtigen Lehren aus den Mängeln der Weimarer Verfassung, indem sie das Grundgesetz in weiten Teilen als Gegenentwurf anlegten, etwa bei der Betonung der Wertgebundenheit, der wehrhaften Demokratie oder der politischen Entmachtung des Staatsoberhaupts (Bundespräsident). Als günstige Fügung erwies sich die Schaffung einer ausgewogenen bundesstaatlichen Struktur, die das Verschwinden Preußen ermöglichte (Föderalismus). Noch wichtiger war, dass die starke Zersplitterung des Parteiensystems in der Bundesrepublik überwunden werden konnte.
Zweitens entwickelte sich die Wirtschaft äußerst positiv. Indem sie die Entfaltung der Marktkräfte mit einem starken öffentlichen Sektor, breit ausgebauter Sozialpolitik und einem korporatistischen System des Interessenausgleichs verknüpfte, sorgte die Soziale Markwirtschaft für ein rasches Wachstum des Wohlstandes, von dem auch die unteren Gesellschaftsschichten profitierten. Die ersten drei Nachkriegsjahrzehnte stellten in der Bundesrepublik aus der Rückschau betrachtet – ähnlich wie in den anderen westeuropäischen Ländern – eine „goldene Ära“ dar, die erst ab den 1970er-Jahren durch Phasen der Stagnation und zunehmende Verteilungskämpfe abgelöst wurde.
Drittens wurden Politik und Wirtschaft durch die kulturelle Entwicklung gestützt, die zur Herausbildung eines breiten demokratischen Bewusstseins beitrug. In den 1950er-Jahren noch stark von autoritären Einstellungen geprägt, fand die bundesdeutsche Bevölkerung damit Anschluss an die politischen Kulturen ihrer westlichen Nachbarn, mit denen sich Deutschland im Rahmen der NATO und Europäischen Union verbunden hatte.
Für die politischen Eliten galt das nach den Erfahrungen von Weimar ohnehin. Extremistische Kräfte blieben, von kurzen Zwischenphasen in den 1960er- und 1970er- Jahren abgesehen, in der Bonner Republik marginalisiert und sollten erst im vereinten Deutschland wieder erstarken.
Mit der Bonner Republik verbindet sich auch die Vorstellung des „Provisoriums“, als das der westdeutsche Staat ursprünglich gedacht war. Es spiegelte sich im nüchternen Staatszeremoniell und der betont zurückgenommenen Wahrnehmung der Hauptstadtfunktion durch Bonn, die Bescheidenheit demonstrieren und die Bundesrepublik als „postnationale Demokratie unter Nationalstaaten“ ausweisen sollte – so hat es der Zeithistoriker und Politikwissenschaftler Karl Dietrich Bracher ausgedrückt. Als sich Bonn in den 1970er- und 1980er- Jahren durch Erweiterungen und Neubauten im Regierungsviertel einen repräsentativeren Anstrich gab, deutete dies auf einen Abschied vom Provisorium hin. Die Wiedervereinigung, die dies schon bald durchkreuzen sollte, stand damals nicht mehr – oder noch nicht – am Horizont.
© Prof. Dr. Frank Decker (Universität Bonn)