Bundesverfassungsgericht
Das Bundesverfassungsgericht stellt die wichtigste institutionelle Neuerung der zweiten deutschen Demokratie dar. Die starke Position, die es im Regierungssystem einnimmt, war keineswegs vorbestimmt. Das Gericht hat sie sich selbst erarbeitet, indem es einerseits auf die juristische Qualität seiner Urteile achtete und andererseits seine eigenen strategischen Interessen im Blick behielt. Als „überparteiliche“ Institution genießt es in der Bevölkerung eine hohe Wertschätzung und liegt im Ansehen noch vor dem Bundespräsidenten. Genauso beachtlich ist seine internationale Reputation.
Verfassungsgerichte sind die Verkörperung der verfassungsstaatlichen Idee. Diese betont die Höherwertigkeit der Verfassung vor dem einfachen Gesetz und zieht dem demokratischen Prinzip der Volkssouveränität damit Grenzen. Wenn die Verfassung über dem Gesetz steht, braucht es eine Instanz, die feststellt, ob sich die Gesetze tatsächlich im Einklang mit der Verfassung bewegen, die also „das letzte Wort“ hat. Der US-amerikanische Supreme Court war das erste Gericht, das sich ein solches Prüfungsrecht im Jahre 1803 anlässlich des Streitfalls Marbury gegen Madison selbst zusprach.
In der institutionellen Ausgestaltung weicht das deutsche Verfassungsgericht vom US-Vorbild ab. Während der Supreme Court die Funktion der Normenkontrolle im Rahmen seiner allgemeinen Spruchtätigkeit als oberste Berufungsinstanz wahrnimmt, ist man in der Bundesrepublik 1949 dem von Österreich 1919 erstmals etablierten Modell eines exklusiven Verfassungsgerichts gefolgt. Anders als den obersten Bundesgerichten billigt das Grundgesetz dem Verfassungsgericht den Status eines gleichberechtigten Bundesorgans zu, das mit Bundestag, Bundesregierung, Bundesrat und Bundespräsident in einer Reihe steht. Der vom Gesetzgeber 1951 verfolgte Plan, es dem Justizministerium zu unterstellen, scheiterte am Widerstand der Richter. Die Selbständigkeit des Gerichts kommt darin zum Ausdruck, dass es – im Unterschied zur allgemeinen Gerichtsbarkeit – in seiner eigenen Organisation, Verwaltung und Haushaltsführung autark ist. Zudem hat es als einziges Bundesorgan seinen Sitz nicht in der Hauptstadt, sondern in der alten Residenzstadt Karlsruhe. Ihr Name ist mittlerweile zu einem Synonym für das Bundesverfassungsgericht geworden.
Das Gericht unterhält zwei Senate, die aus je acht Personen bestehen. Der Erste Senat ist für grundrechtliche Fragen zuständig, der Zweite Senat für Fragen der Staatsorganisation. Sie werden jeweils zur Hälfte vom Bundestag oder Bundesrat mit Zweidrittelmehrheit gewählt. Dies zwingt die Parteien, sich bei den Nominierungen auf Proporzlösungen zu verständigen, was die politischen Zugriffsmöglichkeiten auf das Gericht begrenzt. Wählbar sind nur Personen, die mindestens 40 Jahre alt sind und die Fähigkeit zum Richteramt besitzen. Die Wahl erfolgt einmalig für zwölf Jahre. Die Funktion des Gerichtspräsidenten wird wechselweise von einem der Vorsitzenden der beiden Senate ausgeübt. 2021 war erstmals eine Mehrheit der Richterposten von Frauen besetzt.
Die im Grundgesetz nur grob geregelten Zuständigkeiten des Gerichts sind im Bundesverfassungsgerichtsgesetz von 1951 im einzelnen aufgelistet. Sie lassen sich zu fünf Fallgruppen zusammenfassen: Staatsorganisatorische Streitigkeiten, Verfahren der Normenkontrolle, Verfassungsbeschwerden, Demokratie- und Rechtsstaatssicherung, Wahl- und Mandatsprüfung. Quantitativ nehmen die Verfassungsbeschwerden mit über 96 Prozent aller Verfahren den weitaus größten Raum ein, auch wenn ihre Erfolgsquote mit 2,3 Prozent sehr gering bleibt. Sie können von jedem Bürger und jeder Bürgerin eingelegt werden, die sich in ihren Grundrechten verletzt fühlen. Die meisten Fälle werden bereits in der Vorprüfung durch einen dreiköpfigen Richterausschuss erledigt. Bei den restlichen Verfahren entfällt das Gros auf die Normenkontrollverfahren und staatsorganisatorischen Streitigkeiten. Von den gut 8.000 Gesetzen, die der Bund im Zeitraum von 1951 bis 2018 verabschiedet hat, wurden knapp 500 von Karlsruhe für verfassungswidrig erklärt – das entspricht etwa sechs Prozent
Das Gericht trifft seine Urteile mit Mehrheit, wobei abweichende Meinungen seit 1970 durch sogenannte „Sondervoten“ sichtbar gemacht werden. Blickt man auf die Inhalte seiner Spruchpraxis, gibt es kaum einen Politikbereich, indem es nicht seine Spuren hinterlassen hätte. Mit vielen Urteilen zum Grundrechtsschutz schrieb es Rechtsgeschichte, etwa bei der Meinungsfreiheit (Lüth-Urteil 1958), der Pressefreiheit (Spiegel-Urteil 1966), beim Datenschutz (Volkszählungsurteil 1983), beim Fernmeldegeheimnis (Großer Lauschangriff 2004) oder zuletzt beim Klimaschutz (2021). Im Bereich der Demokratiesicherung setzte es mit seiner Zustimmung oder Ablehnung von Parteiverboten ebenso Maßstäbe wie mit seinem Eintreten für das Prinzip der Chancengleichheit im politischen Wettbewerb. Hier billigte es sich insbesondere in Fragen des Parteien- und Wahlrechts einen besonders hohen Kontrollanspruch zu und agierte – etwa mit seinen Urteilen zur Parteienfinanzierung (1992 und 2023) – bisweilen wie ein Ersatzgesetzgeber. Über die deutschen Grenzen hinaus wirkte schließlich seine Rechtsprechung zur Europäischen Integration, wo es mit den Urteilen zur Währungsunion (1993), zum Lissabon-Vertrag (2009) und zu den Anleiheankäufen der Europäischen Zentralbank (2020) die Übertragung von Souveränitätsrechten an demokratische Bedingungen band.
© Prof. Dr. Frank Decker (Universität Bonn)