Volksabstimmungen

Laut Artikel 20 des Grundgesetzes wird die vom Volk ausgehende Staatsgewalt in „Wahlen und Abstimmungen“ ausgeübt. Wahlen sind mit dem Herrschaftsprinzip der Repräsentation untrennbar verknüpft, das für Demokratien unabdingbar ist. Volksabstimmungen stellen demgegenüber als „direktdemokratische“ oder „plebiszitäre“ Verfahren – beide Begriffe lassen sich synonym verwenden – kein zwingend notwendiges Element der Demokratie dar, sondern gehören lediglich zu den „optionalen“ Einrichtungen. Charakteristisch für die Bundesrepublik ist, dass sie diese Verfahren bisher nahezu ausschließlich auf der Ebene der Länder (dort Volksentscheid genannt) und – davon abgeleitet – der Kommunen vorsieht (Bürgerentscheid). Auf der nationalen Ebene sind sie gemäß Artikel 29 nur bei einer Neugliederung des Bundesgebietes verpflichtend, die von den betroffenen Ländern per Volksentscheid bestätigt werden muss.

Die auch im Vergleich zu anderen Nationalstaaten ungewöhnliche Enthaltsamkeit des Grundgesetzes bei den direktdemokratischen Verfahren wird in der Literatur häufig auf die angeblich negativen Erfahrungen zurückgeführt, die man mit diesen in der Weimarer Republik gemacht habe. Diese These gilt inzwischen als widerlegt. Sie übersieht zum Beispiel, dass in den Länderverfassungen, die vor dem Grundgesetz entstanden sind, die Plebiszite erneut enthalten waren, auch wenn sie in der späteren Praxis keine große Rolle mehr spielten. Weil die Bürger mit dem repräsentativen System zufrieden waren, sahen sie keinen Grund, auf diese Verfahren zurückzugreifen.

In den 1980er Jahren änderte sich dies. Mit der wachsenden Kritik an der Parteiendemokratie wuchs der Druck, die direktdemokratischen Verfahren in Ländern und Kommunen neu zum Leben zu erwecken. Gleichzeitig mehrten sich die Forderungen, sie auch auf Bundesebene einzuführen. Während die linken Parteien (Grüne, SPD und Die Linke) dafür waren, blieben die Unionsparteien und hier vor allem die CDU skeptisch. Als die rot-grüne Bundesregierung 2002 einen Vorstoß für eine Grundgesetzänderung unternahm, verhinderten sie das Zustandekommen der notwendigen Zweidrittelmehrheit.

Seither ist auch bei den Befürwortern Ernüchterung eingekehrt. Neben dem Ausgang mancher nationalen Volksabstimmungen (etwa zum Brexit im Großbritannien) haben nicht zuletzt die konkreten Erfahrungen mit den Verfahren in den deutschen Ländern und Kommunen zu einem politischen Umdenken geführt. Gleichzeitig versuchen die Rechtspopulisten (in Gestalt der AfD), die Forderung nach „mehr direkter Demokratie“ für sich zu vereinnahmen.

Ein grundsätzliches, von der Staatsrechtslehre bis heute vernachlässigtes Problem liegt darin, dass sich die direktdemokratische Verfassungsgebung in Deutschland seit dem 19. Jahrhundert einseitig auf das Modell der sogenannten „Volksgesetzgebung“ konzentriert. Die Volksabstimmungen (oder Volksentscheide), die am Ende eines plebiszitären Verfahrens stehen, werden hier nicht „von oben“, das heißt vom Parlament und / oder der Regierung ausgelöst, sondern von den Bürgern selbst, also „von unten“. Auf der Länderebene sind dabei zwei Verfahrensstufen – Volksinitiative und Volksbegehren – vorgeschaltet. Weil diesen eine potenziell oppositionelle Stoßrichtung innewohnt, indem sie geplante oder bereits beschlossene Vorhaben der Regierung zu Fall bringen möchten, stößt sich die Volksgesetzgebung mit der parlamentarischen Regierungsform. Deren Logik besteht nämlich darin, dass die Opposition als parlamentarische Minderheit gerade nicht die Möglichkeit haben soll mitzuregieren (wie es durch die Hintertür der Plebiszite der Fall wäre), sondern auf ihre Alternativfunktion beschränkt bleibt.

Die starken Restriktionen, denen die Volksgesetzgebung in der konkreten verfassungsrechtlichen Ausgestaltung unterworfen ist, müssen vor diesem Hintergrund gesehen werden. Sie reichen von weitreichenden Themenausschlüssen besonders bei finanzwirksamen Gesetzen über die in den verschiedenen Stadien des Verfahrens zu meisternden Unterschriften- und Zustimmungshürden bis hin zu scheinbar nebensächlichen Fragen wie Eintragungsfristen und -orten, Festlegung des Abstimmungstermins, Verbindlichkeit der volksbeschlossenen Gesetze etc. In der politischen Auseinandersetzung über die „Öffnung“ und „Schließung“ der Verfahren haben deshalb häufig die Verfassungsgerichte das letzte Wort.

Neben den Verfahren der Volksgesetzgebung spielen in den Ländern nur die obligatorischen Verfassungsreferenden eine größere Rolle. Auf sie entfallen etwa zwei Drittel der knapp 100 zwischen 1946 bis 2024 abgehaltenen Volksentscheide, die meisten davon in Bayern und Hessen. Von den übrigen 30 Volksabstimmungen wurden fünf durch Parlament oder Regierung ausgelöst, 25 durch ein Volksbegehren. Bis auf drei Ausnahmen fanden alle zuletzt genannten Verfahren seit 1990 statt. Auf der kommunalen Ebene liegt die Quote der vom Stadt- oder Gemeinderat ausgelösten Abstimmungen (Ratsbegehren) bei etwa 20 Prozent, die übrigen 80 Prozent gehen auf Bürgerbegehren zurück. Die Gesamtzahl der Bürgerentscheide beläuft sich hier auf rund 4.000 – gemessen an der Gesamtzahl von 11.000 Gemeinden ist das ein überschaubarer Wert. Selbst in Bayern, das bei der Häufigkeit pro Jahr und Gemeinde nach den Stadtstaaten den ersten Platz einnimmt, beträgt der Schnitt weniger als ein Bürgerentscheid pro Gemeinde.  

© Prof. Dr. Frank Decker (Universität Bonn)

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